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Unverkäufliche Kurzgeschichte:

Kristofer Hellmann

Weit entfernte rote Sterne

Eine Kurzgeschichte aus der Welt der Nebelpfad-Chroniken

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Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar.

Weit entfernte rote Sterne

Aber lauf nicht zu weit weg!«

»Nein, nein!«

Hethiel stürmte durch die Tür und ließ sie hinter sich zufallen. Noch ehe er den zarten Ton hörte, den das Holz verursachte, wenn es gegen den Rahmen schlug, war er an der Treppe. Seine Hand griff nach dem Geländer. Er hatte viel zu viel Schwung und würde die enge Kurve am Absatz niemals schaffen. Er würde über das Geländer fallen und die vielen Fuß aus der Baumkrone in die Tiefe stürzen – und dort sterben.

Seine Hand griff nach dem Holz und er spürte einen sanften Ruck im Arm. Er blieb in der Spur und schaffte die Kurve. Hethiel lachte laut auf. Er konnte seine Mutter beinahe hören, wie sie ein ›Dieser Bengel‹ aus dem Fenster stöhnte.

Lachend rannte er die Treppe hinab, die sich um den Stamm des dicken Baumes wand. Er kannte jede Stufe genau, selbst blind oder mit verbundenen Augen würde er niemals stolpern. Natürlich begriffen die Erwachsenen nicht, dass er mit seinen vier Jahren schon weit fähiger war als sie, die sie mehrere hundert Jahre alt waren. Aber er machte ihnen keine Vorwürfe. Sie waren nun einmal Erwachsene. Zum Glück würde er niemals so werden.

Hethiel stoppte auf der drittletzten Stufe, riss beide Arme nach hinten um Schwung zu holen und sprang. Zielsicher landete er auf dem Waldboden und lachte laut auf. Er würde einmal der beste Krieger Geril Uabalms werden, alle Soldaten der Waldelda würden seinem Beispiel folgen wollen und zu ihm aufschauen.

Der Junge griff nach seinem Schwert, das am Baum gelehnt auf ihn wartete. Feindbrecher hatte er es getauft.

Feindbrechers Klinge glitzerte silbern und golden im Licht der Dämmerung, feine Linien in Form von Ranken, Blättern und Blüten waren in dem Metall zu erkennen. Obwohl, wegen der Blüten war Hithiel sich noch nicht ganz sicher. Waren die nicht eigentlich Mädchenkram? Seine Hand umfasste den Griff. Mit einigen Schlägen durch die Luft kontrollierte er das Gewicht und wärmte seine Muskeln auf. Ja, das war eindeutig sein Stock, äh Schwert.

Sein Schwert Feindbrecher!

Hithiel schob es in die unsichtbare Scheide an seinem Gürtel und marschierte los. Die anderen Waldelda grüßten ihn freundlich. Er bedachte sie alle mit einem würdevollen Blick. Das zarte Lächeln, das jedes Gesicht umspielte, verriet ihm, dass sein Zauber funktionierte. Die Erwachsenen, vor allem die unschuldigen Bürger Ayatalars, dachten, er würde nur einen alten Stock am Gürtel tragen. Niemand erkannte die silberne Klinge Feinbrecher. Sie dachten, er sein nur ein kleiner Junge, doch in Wahrheit war er es, der Geril Uabalm, das Heim aller Waldelda, gegen all die bösen Monster verteidigte.

»Lauf nicht zu weit in den Wald hinein, Hithiel!«, rief ihm irgendjemand hinterher. Der Junge winkte nur zurück und verschwand zwischen den Bäumen.

Kaum hatte er die Baumhäuser und Holzhütten der Stadt hinter sich gelassen, ging er in die Hocke und schmiegte sich an einen der mächtigen Stämme. Von nun an musste er vorsichtig sein. Der Wald wimmelte von Gefahren!

Die anderen Waldelda wussten das nicht, sie vertrauten auf ihre Wächter und die Dryaden. Hithiel erschauderte. Er mochte die Dryaden nicht. Sie sahen aus wie belebte Bäume, etwas größer als ein Waldelda und unglaublich furchteinflößend. Ihr Körper bestand aus totem Holz, in das ein Baumgeist gefahren war, der es nun belebte. Ohne diese Hülle waren sie nur als zarte Lichter in der Luft auszumachen, ähnlich umherschwirrender Glühwürmchen. Aber wenn sie Besitz von einem toten Baum ergriffen, war ihre Schönheit verflogen.

Zweimal war Hithiel einer Dryade begegnet. Ihre Augen, das unheimliche, ferne rote Glühen in den tiefschwarzen Löchern, verfolgte ihn noch immer in seinen Träumen. Das Maul sah aus, als hätte ein kraftvoller Axthieb brutal ein Loch in den hohlen Stamm geschlagen.

Hithiel schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Die Dryaden beschützten Geril Uabalm und lebten mit den Waldelda in Harmonie. Dennoch wusste jeder, dass man ihnen nicht trauen durfte. Sie waren wie ein gezähmter Wolf. Auch der konnte jederzeit über seinen Herren herfallen und ihm die Kehle aufreißen.

Die Hand der Jungen fuhr unwillkürlich an seinen Hals. Dann betrachtete er die feinen hellgrünen Adern, die seine Haut durchzogen. Er war ein Waldelda, niemand konnte ihm in diesem Wald verletzen. Um seine Gedanken zu unterstützen, warf er sein braunes Haar mit einer Kopfbewegung zurück.

Trotzdem machten ihm die Dryaden Angst. Vor allem, dass sie angeblich Kinder entführten, die sich im Wald verliefen, und diese dann aufzogen. Wie dumm konnte jemand sein, wenn er eine Dryade mit seiner Mutter verwechselte? Aber es schien möglich, wo kamen sonst diese Geschichten her? Und diese ›Baumlinge‹, wie man die Findelkinder von Dryaden nannte, wurden ja auch immer wieder gesehen. Nackt wie ihre Zieheltern streiften sie durch die Wälder und ebenso wie die Baumgeister konnten sie ohne Vorwarnung plötzlich angreifen. Angeblich rissen sie ihrem Feind mit bloßen Händen das Herz aus dem Leib.

Hithiel sprang auf und rannte los, in der Hoffnung, die düsteren Gedanken abschütteln zu können.

Da ein Morg! Feindbrecher grub sich in das schmutzige Fleisch und fällte die Bestie. Er wirbelte herum und schlug dem nächsten den Kopf ab. Wieder eine Drehung, dieses Mal schlitzte er dem Morg den fetten Bauch auf. Weiter und weiter kämpfte sich der Waldeldajunge durch das Dickicht und schlug dabei mit seinem Stock gegen die Baumstämme. Das Knallen von Holz auf Holz klang für ihn wie das Bersten von Schilden und Rüstungen und die Schreie sterbender Bestien. Er war der stille Held Ayatalars. Er war es, der die anderen Waldelda und ihre Stadt beschützte. Doch das würden sie niemals erfahren. Für sie war er nur ein kleiner Junge, der gegen unsichtbare Feinde kämpfte.

Hithiel sprang um einen Baum herum und schlug zu. Sein Schwert drang tief in den Schädel eines Wolfes.

Der Junge erstarre.

Feinhammer verwandelte sich in einen einfachen Stock, die Leichen hinter ihm wurden zu Gestrüpp und heruntergefallenen Ästen. Doch der Wolf blieb. Und das Knurren klang wirklicher, als er es sich jemals erträumt hatte. Es drang bis in seinen Magen vor und ließ ihn erzittern. Noch immer ruhte der Stock auf der Nase. Die Lefzen zuckten wütend, und unter ihnen traten scharfe Zähne hervor. Hithiel starrte wie gebannt in die wütenden Augen des Wolfes, der so groß war wie er selbst. Der Körper des Jungen begann zu zittern, Schweiß rann an ihm herab. Seine Augen blickten ungläubig umher. Doch er sah nur Bäume. Keine Wache, kein Licht einer Laterne, keine Hilfe. Er war allein und diesem Wolf ausgeliefert.

Das Knurren wurde lauter. Wie ein Knall hallte erst ein leises Bellen durch den Wald, dann brach der Wolf in lauten Gekläffe aus und schnappte nach dem Stock.

Hithiel wirbelte herum, ließ Feindbrecher fallen und rannte davon. Ohne auf irgendetwas zu achten stürmte er durch das Dickicht. Er hörte das Krachen von Ästen und das Rascheln von Blättern. Dicht hinter ihm grollte der Wolf. Der Junge merkte gar nicht, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Er schrie. Sein ganzes Denken konzentrierte sich darauf, schneller zu rennen. Gleichzeitig bildete er sich ein, den heißen Atem der Bestie hinter sich zu spüren.

»Ich bin kein Krieger!«, schrie er in der Hoffnung, der Wolf würde aus Mitleid von ihm ablassen, »Ich bin nur ein kleiner Junge! Hilfe! Mama! Papa!« Doch er wusste, dass die Bestie noch immer hinter ihm war.

Er spürte, wie seine Beine schwerer wurden. Sein Hals brannte, ebenso seine Brust. Das Knurren hinter ihm wurde immer lauter. Er spürte ein Ziehen an seinem linken Hosenbein, dann hörte er Stoff reißen. Der Wolf war so nahe!

Jetzt weinte Hithiel ungehemmt. Er wollte nicht sterben! Er war doch noch ein Kind! Es war doch nur ein Spiel gewesen! Nur ein Spiel! Er...

Sein Fuß verfing sich in einer Wurzel. Hithiel blieb sogar die Luft zum Schreien weg, als er stürzte. Er stieß hart mit der Schulter gegen einen Stein und rollte sich auf den Rücken. Über sich sah er den Körper des Wolfes, als dieser sich auf ihn stürzte. Geifer troff aus dem Maul, die Augen waren gierig aufgerissen.

Dann ging alles ganz schnell.

Ein Ast schoss vor. Ein Ast, der sich in vier dünnere, lange Äste aufteilte, die wie eine Hand aussahen. Die Holzhand bohrten sich wie ein Speer in den Körper des Wolfes. Das Tier konnte gerade noch ein leises Winseln ausstoßen. Eine Weile verharrten der Ast und der Wolf in der Pose. Hithiel gefror das Blut, als er die langen Holzfinger sah, die aus dem Rücken des Wolfes herausragten. Sie waren rot und zwischen ihnen pulsierte etwas, das irgendwie lebendig aussah. Ein Schlag. Noch einer. Dann bewegte es sich nicht mehr. Der Wolf war längst erschlafft.

Der Ast machte eine schnelle Bewegung zur Seite und das Tier flog davon.

Hithiel befreite seinen Fuß aus der Wurzel und erhob sich auf alle Viere. Er war so verängstigt, dass er nicht einmal merkte, dass seine Hose im Schritt ganz nass war. Vor sich sah er die Stämme zweier sehr kleiner Bäume. Sein Blick folgte der grauen, rissigen Borke hinauf. Die Bäume verbanden sich, jetzt sahen sie aus wie zwei Beine.

Es dauerte eine Weile, dann wusste Hithiel, was er vor sich hatte: Einen sieben Fuß hohen Stamm mit Beinen und Armen. Der Kopf sah aus, als wäre der Stamm dort einfach abgebrochen. Zwei Löcher bildeten Augen nach. Rote Funken glühten darin wie weit entfernte Sterne. Das Holzmaul war weit aufgerissen wie zu einem stummen Schrei.

Der Junge zwang sich auf die Beine. Sein Blick streifte nur kurz das Blut des Wolfes, das von dem einen Arm tropfte. Doch diese roten Augenpunkte hielten ihn gefangen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, alle Gedanken waren verschwunden, er war wie hypnotisiert. Dann veränderte sich der Körper der Dryade.

Das war etwas, das man Hithiel noch nicht beigebracht hatte: Dryaden konnten ihr Aussehen verändern, angeblich, um so ahnungslose Wanderer anzulocken. Nach wenigen Herzschlägen stand vor dem Jungen eine Frau, unbekleidet, mit langem braunen Haar, dunklen Augen und Rundungen, die jedes Männerherz höher schlagen ließen. Doch den Waldelda hielten noch immer diese Augen gefangen.

Ein Lächeln umspielte die Lippen der Frau, nur ganz zart. Man mochte beinahe glauben, sie wäre unsicher, weil sie nicht wusste, wie man richtig lächelte. Doch Dryaden waren Meister des Verführens, in jeder Hinsicht, wenn man den Geschichten glauben konnte. Hithiel öffnete seinen Gürtel, ohne den Blick von den Augen zu lösen.

Die Dryade sagte kein Wort.

»Ich weiß«, antwortete Hithiel beinahe traurig.

Dann warf er seine nasse Hose ins Gestrüpp; wie alle seines Volkes bedeckte er seinen Oberkörper nur im Winter, wenn der Zauber Geril Uabalms schlief. Er schämte sich nicht seiner Nacktheit. Wieso sollte er auch?

»Ja, Mutter«, antwortete der Junge und griff nach der ausgestreckten Hand der Dryade. Die beiden verschwanden zwischen den Bäumen, wo selbst die Waldelda sie niemals wiederfinden würden.

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